Cover
Titel
Institutional Violence and Disability. Punishing Conditions


Autor(en)
Rossiter, Kate; Rinaldi, Jen
Reihe
Routledge Advances in Disability Studies
Erschienen
London 2018: Routledge
Anzahl Seiten
116 S.
Preis
£ 110.00
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Markus Steffen, Hochschule für Soziale Arbeit, Fachhochschule Nordwestschweiz

Die Geschichte des Heimwesens ist im deutschsprachigen Raum seit längerem Gegenstand kritischer Analysen. Die Ausgangslage unterscheidet sich dabei regionenübergreifend wenig: Philanthropischen Motiven gewidmete Einrichtungen entpuppten sich als Schauplätze von Gewalt. Meist folgte dabei auf eine durch Betroffene initiierte mediale Skandalisierung eine staatlich alimentierte wissenschaftliche Aufarbeitung.1 Weitgehend ausgeklammert blieb bisher der Bereich der Behindertenhilfe. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, fristen die Behindertenheime in der Konjunktur von Aufarbeitung und Erinnerungspolitik ein Stiefkinderdasein.2

Wie die hier zu besprechende kanadische Untersuchung verdeutlicht, ist der Forschungsstand im angelsächsischen Raum deutlich elaborierter. Für die Darstellung der historischen Eckdaten können Kate Rossiter und Jen Rinaldi auf einen Fundus an kanadischen Studien zurückgreifen. Im Gegenzug können sie sich fokussiert jener höchst relevanten Frage widmen, wie es kommt, dass „places ostensibly designed to provide care for people deemed vulnerable“ (S. 1) die Konturen von Mikrokosmen der Gewalt annehmen. Als Fallbeispiel dient das in Ontario situierte Huronia Regional Centre. In den 1870er-Jahren eröffnet, ist die Einrichtung aus zwei Gründen bedeutungsvoll: Einerseits handelt es sich um eine für nordamerikanische Verhältnisse charakteristische Massenanstalt, die sich – trotz der offiziellen Ausrichtung auf sogenannte geistig Behinderte – schnell zu einer „catchall institution“ (S. 9) entwickelte. Chronisch unterfinanziert diente sie der Verwahrung von Bevölkerungsgruppen, denen die Fähigkeit zur sozialen Einordnung abgesprochen wurde. Charakteristisch nordamerikanisch erscheint anderseits auch die Schliessung der Einrichtung: Ab 1960 brachten Journalisten die katastrophalen Lebensbedingungen ans Licht; offizielle Untersuchungen bestätigten die Missstände. Es folgte ein Deinstitutionalisierungsprozess, der 2009 abgeschlossen wurde. Unmittelbar danach strengten Betroffene eine Sammelklage gegen Ontarios Provinzregierung an, die 2013 mit einer Entschädigungssumme von 36 Millionen kanadischen Dollar beigelegt wurde. Die rechtliche Auseinandersetzung hatte Signalwirkung und diente als Blaupause für eine Reihe von Sammelklagen in Zusammenhang mit anderen Einrichtungen. Wie Rossiter und Rinaldi einleitend festhalten, führte die rechtliche Aufarbeitung zu einer Fülle an zuverlässigen, wissenschaftlich noch nicht ausgewerteten Informationen zu den Lebensbedingungen in kanadischen Anstalten. Die Analyse dieser Archivmaterialien wurde in der Untersuchung mit einer ethnographisch orientierten, partizipativen Forschung mit „survivor colleagues“ kombiniert.

Im Zentrum der Darstellung steht eine deutliche Absage an Erklärungsansätze, die in erster Linie auf pathologische Persönlichkeitsprofile auf Seiten der jeweiligen Täter/innen fokussieren (S. 24). Die Omnipräsenz institutioneller Gewalt sei vielmehr in der Organisationsweise von Massenanstalten verankert. Naheliegenderweise referieren Rossiter und Rinaldi hier auf Ervin Goffman und dessen Konzept der „totalen Institution“.3 Kernfunktion totaler Institutionen ist demnach das massenhafte Management von sozial marginalisierten Bevölkerungsgruppen in einer segregierten Umgebung unter dem Gesichtspunkt einer möglichst kostengünstigen Versorgung. Wie in der vorliegenden Untersuchung anschaulich dargelegt wird, führte die Durchsetzung effizienter institutioneller Routinen zu einer systematischen Negierung individueller Bedürfnisse. Folge war eine „denigration or ‚mortification‘ [...] of residents bodily and personal integrity“ (S. 40). Diese Grundbedingung totaler Institutionen fungiere als Nährboden für Gewalt, welche die Autorinnen in Anschluss an Michel Wieviorka4 als ein Kontinuum zwischen „cold“ und „hot violence“ beschreiben. Als kalte Gewalt bezeichnen sie Praktiken, die der besagten Implementierung institutioneller Routinen und damit der Effizienz des Anstaltsbetriebs dienten. Die betreffenden Praktiken – etwa entwürdigende Kontrollprozeduren wie „genitalia checks“ – erfolgten nicht mit einer Gewaltintention, sondern waren Bestandteil der institutionellen Care-Routinen. Als warme Gewalt fassen die Autorinnen Praktiken, welche der Durchsetzung besagter Routinen bei Widerstandshandeln dienten. Vor Gericht erklärte eine ehemalige Mitarbeitende etwa, dass der Einsatz von elektronischen Viehstöcken ein legitimiertes Disziplinierungsinstrument dargestellt habe (S. 29). Von kalter und warmer Gewalt abzugrenzen seien heisse Formen der Gewalt, die sich als „violence for the sake of violence“ (S. 42) beschreiben lassen. Als häufige Beispiele führen die Autorinnen hier sexuelle Übergriffe auf. Hierbei handle es sich um die skandalträchtigsten Auswüchse institutioneller Gewalt, die letztlich aber zu erwarten seien in einem Kontext, „where dehumanized forms of care are the norm“ (S. 41). Das skizzierte Gewaltkontinuum wurde durch spezifische „organizational traits“ aufrechterhalten, die es dem Personal mitunter ermöglichten, ihre Gewaltpraktiken vor dem eigenen Gewissen zu verschleiern. Die Mitarbeitenden hatten es mit Personen zu tun, denen die Fähigkeit zu eigenverantwortlichem Handeln umfassend abgesprochen wurde. Um Eingriffe in deren Autonomie wurde folglich wenig Aufhebens gemacht. Weiter führte der hohe Kostendruck zu stark vertikalen Machtstrukturen und damit zu einer systematischen Diffusion von Verantwortung. Die sozialräumliche Isolierung der Einrichtung ermöglichte es dem Personal zudem, Verhalten an den Tag zu legen, „that would not be tolerated in a more open and public system“ (S. 34). In erster Linie seien diese Rahmenbedingungen für die von Gewaltpraxen geprägte Arbeitskultur verantwortlich. Folgerichtig erklären sich Rossiter und Rinaldi den Umstand, dass sich ein Teil des Personals selbstbewusst gegen die in der Sammelklage erhobenen Vorwürfe zur Wehr setzte, als ein „perceptual problem“ (S. 62). Die Bilanz der rechtlichen Auseinandersetzung fällt insgesamt zwiespältig aus: Die Autorinnen werten das Einlenken der Regierung als einen Etappensieg, mit dem Huronias Problemgeschichte zugleich aber auch fortgeschrieben worden sei. Entschädigungsleistungen wurden z.B. an die verbale Aussagefähigkeit geknüpft, wodurch eine grosse Zahl von „highly impaired, non-verbal survivors“ (S. 72) von Wiedergutmachungsleistungen ausgeschlossen wurde. Auch sei der Kern des Gewaltgeschehens, nämlich die oben skizzierte kalte Gewalt, nur marginal problematisiert worden.

Grundsätzlich legen Rossiter und Rinaldi eine lesenswerte Fallstudie zu Gewaltpraxen in Massenanstalten vor. Unbedingt zu unterstützen ist das Postulat der Autorinnen, bei der Analyse institutioneller Gewalt den Fokus auf systemische Faktoren und weniger auf das „Versagen“ Einzelner zu richten. Mit der Konzipierung von institutioneller Gewalt als ein Kontinuum zwischen kalter und heisser Gewalt präsentieren die Autorinnen ausserdem eine vielversprechende Heuristik, deren Überzeugungskraft in weiteren Analysen zu prüfen ist. Kritisch zu vermerken sind zwei Punkte: Erstens wird in der Darstellung von Ausmass und Formen der Gewalt wenig historische Dynamik ersichtlich. Stellenweise stellt sich die Frage, ob den breiteren diskursiven Kontexten genügend Beachtung geschenkt wurde. So fehlt etwa beim oben erwähnten Beispiel des Einsatzes von elektronischen Viehstöcken ein Hinweis darauf, dass Stromschläge in den 1960er- und 70er-Jahren von Seiten etablierter, behavioristisch orientierter Psycholog/innen als probates Mittel zur „Behandlung“ von Verhaltensauffälligkeiten bei Menschen mit einer Behinderung propagiert wurden.5 In der Folge bleibt unklar, ob im Huronia Regional Centre zur Legitimation von Strafpraxen auf die einschlägigen behavioristischen Diskurse rekurriert wurde. Zweitens verorten Rossiter und Rinaldi institutionelle Gewalt ausschliesslich im Kontext der Massenanstalt. Dies ist fragwürdig: Auch in deinstitutionalisierten Versorgungssystemen lassen sich für totale Institutionen charakteristische Handlungspraxen beobachten und selbst Vorfälle heisser Gewalt werden immer wieder publik.6 Bezüglich Wohnformen ausserhalb von Massenanstalten fehlt es der Studie an einer kritischen Perspektivierung. Deutlich wird dies im Schlusskapitel, in dem Ansätze, die seit jeher auf kleine Wohneinheiten setzen, irritierend unkritisch dargestellt werden. Ärgerlich ist dies etwa im Fall der hier regelrecht gefeierten reformpädagogischen Anthroposophie. Die auf Rudolf Steiner zurückgehende heilpädagogische Dogmatik ist tief paternalistisch; die Erziehung in gegen aussen abgeschlossenen Gegenkulturen ist zumindest in der anthroposophischen Tradition Programm.7 Dem deutschsprachigen Publikum dürfte die reformpädagogische Gewaltproblematik spätestens seit dem Skandal um die Odenwaldschule präsent sein.8 Die Autorinnen sprechen insofern einem Ansatz Vorbildcharakter zu, dem zentrale Risikofaktoren zur Entstehung institutioneller Gewalt eingeschrieben sind und deren Relevanz gerade auch die Geschichte des Huronia Regional Centres verdeutlicht. Aufgabe künftiger Untersuchungen wird es mitunter sein, auch die als zeitgemäss propagierten Einrichtungen einer kritischen Analyse zu unterziehen.

Anmerkungen:
1 Für ein jüngeres Beispiel: Unabhängige Expertenkommission Administrative Versorgungen, Organisierte Willkür, Administrative Versorgungen in der Schweiz 1930–1981, Schlussbericht, Zürich 2019.
2 Petra Flieger / Volker Schönwiese, Behindertenheime. Die Stiefkinder der Aufarbeitung von Missbrauch und Gewalt, in: Monika Jarosch u.a. (Hrsg.), Gegenstimmen. Gaissmair-Jahrbuch 2015, Innsbruck 2015, S. 144–150.
3 Erving Goffman, Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und Insassen, 19. Aufl., Frankfurt am Main 2014 (1. Aufl. 1972).
4 Michel Wieviorka, Violence. A New Approach, London 2009.
5 Margaret F. Gibson / Patty Douglas, Disturbing Behaviors. Ole Ivar Lovaas and the Queer History of Autism Science, in: Catalyst 4 (2018), S. 1–28.
6 Niklas Altermark, Citizenship Inclusion and Intellectual Disability. Biopolitics Post-Institutionalisation, London 2017; Hendrik Trescher, Subjektivierung in der stationären Behindertenhilfe – ein pädagogisches Dilemma, in: Neue Praxis 47(2017), S. 354–370.
7 Jürgen Oelkers, Reformpädagogik. Eine kritische Dogmengeschichte, Weinheim 2005, hier S. 331; Britta-Marie Schenk, Behinderung verhindern. Humangenetische Beratungspraxis in der Bundesrepublik Deutschland (1960er bis 1990er Jahre), Frankfurt am Main 2016, hier S. 198–205.
8 Bilanzierend: Sabine Andresen, Reformpädagogik. Kritik und Immunisierung, in: Karin Böllert / Martin Wazlawik (Hrsg.), Sexualisierte Gewalt. Institutionelle und professionelle Herausforderungen, Wiesbaden 2014, S. 35–43.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
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